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Welche Werte durch den Terroristen von Wien verraten wurden

Am 2. November gegen 20 Uhr eröffnete ein schwer bewaffneter Angreifer das Feuer auf Menschen vor einem Cafe in einem Restaurant in der Seitenstettengasse in Wien. Bei dem Angriff wurden vier Menschen getötet, weitere 23 wurden verletzt. Der durch die Polizei getötete Angreifer wurde als Kujtim Fejzulai identifiziert. Geboren wurde er in Österreich. Er  hatte sowohl die österreichische Staatsbürgerschaft als auch die des Staates Nordmazedonien. Die Verantwortung für den Terrorakt übernahm der „Islamische Staat“ (Daesh).

Der Angreifer wurde im Jahr 2019 in Österreich zu 22 Monaten Haft verurteilt, nachdem er versucht hatte, sich einer terroristischen Vereinigung in Syrien anzuschließen. Österreichische Quellen berichten darüber, dass er sich wahrscheinlich in einer „Moscheegemeinde“ radikalisiert hat, die nicht unter dem Dach der offiziellen Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) fungiert. Welche absonderliche Ideologie diesen jungen Menschen dazu gebracht hat, diesen Terrorakt zu verüben, wird im Rahmen der Ermittlungen noch zu prüfen sein. An dieser Stelle wollen wir versuchen auf eine andere Frage eine Antwort zu finden: Welche Werte wurden durch diesen jungen Terroristen verraten?

Nach unserer Auffassung hat dieser junge Mann, geboren in Österreich, aufgewachsen in einer albanischen Familie aus Mazedonien, der sich als Muslim identifizierte, folgende Werte verraten: den Status eines österreichischen Bürgers, den islamischen Glauben sowie die traditionellen albanischen Werte.

Erstens: Kujtim Fejzulai war Staatsbürger der Republik Österreich. Ein Status, nach welchem viele seiner Gleichaltrigen auf dem Balkan und außerhalb der Europäischen Union sehnsüchtig trachten. Er hatte Rechte, Pflichten und Privilegien eines Bürgers eines der angesehensten Staaten Europas. Eines Zentrums der Entwicklung europäischer Wissenschaft, Technik, Kultur und Künste. In diesem Land fand der Islam im Jahre 1912 als Religion im Öffentlichen Recht Anerkennung. Die Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina wurde innerhalb des damaligen Staatensystems gegründet; auf dem Balkan wurde das Konzept Mitteleuropa verbreitet. Es handelt sich hierbei um das Land, in dessen Hauptstadt man für die Mietkosten und den Lebensunterhalt von Kujtim Fejzulai durch die Gewährung von Sozialhilfe in Höhe von monatlich 917,35 Euro aufkam (nach Berichten der Kronen-Zeitung).

Zweitens: Durch den Terrorakt wurde der islamische Glaube verraten. Die Tötung eines unschuldigen Menschen, wie im Koran ausgeführt wird, ist einer Tötung der gesamten Menschheit gleichzusetzen (Al-Maida 5:32). Im islamischen normativen System steht das menschliche Leben an der Spitze der schutzwürdigen Güter. Derjenige, der unschuldige Menschen tötet und sie Schrecken aussetzt, wird im islamischen Recht als Muharib bezeichnet. Für diese Taten sind die strengsten Strafen vorgesehen. Dasselbe normative System verurteilt zutiefst die Nichteinhaltung von vertraglichen Verpflichtungen, die ein Bürger gegenüber einem Staat hat. Man kann nicht den Status eines Staatsbürgers genießen, den Schutz der Staatsmacht, die Hilfe des Staatswesens beanspruchen und dann Bürger dieses Staates oder Menschen, die auf seinem Territorium verweilen, angreifen.

Drittens: Durch den Terrorakt wurde die albanische Tradition verraten, der die Familie des Vollstreckers dieser schrecklichen Tat kulturell zuzuordnen ist. In der albanischen Tradition, kodifiziert im Kanun (Gewohnheitsrecht) des Lekë Dukagjini finden sich drei Schlüsselprinzipien: Vertrauen (besa), Gastfreundlichkeit (mikpritja) und die persönliche Ehre (nderi). Besa stellt das wichtigste Lebenskonzept dar, weitreichender noch als das Leben. Zuwiderhandlungen gegen die Besa werden als unvorstellbar angesehen und haben den Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge. Die Albaner waren unter den Völkern des Balkan besonders bekannt dafür, zu ihrem Wort/Versprechen zu stehen. Was sonst stellt ein Verstoß gegen Verfassung und Gesetz dar, wenn nicht eine Zuwiderhandlung gegen die Besa?

Gäste gelten in der albanischen Tradition als unberührbar. Ihr Schutz ist bedeutender als die Beziehung zwischen Blutsverwandten. Mit dem Betreten eines albanisches Hauses genießt man den Schutz dieser Familie. So wurden durch albanische Familien zahlreiche Juden vor der Naziverfolgung gerettet. Im Kanun des Lekë Dukagjini heißt es: „Das albanische Haus gehört Gott und Gast“.

Die persönliche Ehre ist ein drittes Grundprinzip der albanischen Tradition. Zuwiderhandlungen gegen dieses Prinzip sind unverzeihlich. Ein Albaner wird eher dem Tode zustimmen, als sein Wort nicht einzuhalten, heißt es in anthropologischen Studien, die sich mit diesem Volk befassen.

Wie konnte es dazu kommen, dass diese drei kulturellen Grundlagen – der Status eines österreichischen Bürgers, der islamische Glaube und die albanische Tradition – aus dem Verstand eines jungen Menschen während des Radikalisierungsprozesses gelöscht werden? Sind denn die extremistischen Demagogen, die nunmehr keinen Platz mehr in den Ländern haben, in denen sie ihre Ausbildung bekommen haben, die den Wohlstand des „verdorbenen Westens“ genießen, und die „Jagd machen auf menschliche Seelen“, stärker als die drei kulturellen Faktoren, die wir genannt haben? Auf diese Frage werden viele Verantwortungsträger eine Antwort geben müssen, die zuständig sind für Bildung, Integration, Gesetzesverfolgung, Glaubenslehre und Jugendarbeit. Denn der Täter ist in diesem Falle nicht mit der Migrationswelle über die „Balkanroute“ gekommen, sondern wurde in Österreich geboren.

(Verfasser: Prof. Dr. Fikret Karčić, Islamische Zeitung PREPOROD, erschienen am 15.11.2020; Herausgeber: Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina; Übersetzung ins Deutsche: E.A.)